World Wide Aargau
«Ich bin ein mega Sparfuchs, aber ohne meine Familie würde es trotzdem eng»
Bild: SWpix.com
Michelle Andres (25) gehört zu den besten Bahn-Radfahrerinnen der Welt und ist auch als Strassen-Rennfahrerin am Start. In unserer Serie «World Wide Aargau» erzählt sie uns, wie viel sie trainiert, worauf sie in ihrem Profialltag achtet, wie oft sie im Ausland unterwegs ist und weshalb die Preisgelder im Radsport nirgendwohin reichen.
Michelle, du nimmst auf der Bahn und auf der Strasse an Profirennen teil. Wie kriegst du das hin, gleichzeitig für zwei Disziplinen zu trainieren?
Das Gute ist, dass ich auf der Strasse trainieren muss, um auf der Bahn gut zu sein. Es ist also nicht so schwierig, die beiden Disziplinen im Training zu kombinieren. Dennoch muss ich natürlich Schwerpunkte setzen, je nachdem, ob als nächstes ein Strassen- oder ein Bahnrennen ansteht.
Welche der beiden Disziplinen ist für dich wichtiger?
Mein Fokus liegt ganz klar auf der Bahn. Aber um auf der Bahn erfolgreich zu sein, brauche ich die Strasse. Und zwar nicht nur im Training, sondern auch im Rennen. Auf der Strasse trainiere ich einerseits die Ausdauer und andererseits hole ich mir die Rennhärte. Die kannst du dir im Training nur schwer aneignen. Für die Bahn braucht es dann jeweils in den Wochen vor dem Wettkampf viele intensive, kurze Einheiten für die Spritzigkeit und Schnelligkeit.
Bild: Frontalvision
Wie hast du deinen Trainingsalltag organisiert?
Mein Trainer Alex Bauer, mit dem ich seit diesem Sommer zusammenarbeite, konzipiert meine Trainingspläne. Da steht dann, wie viele Stunden ich mit welcher Intensität absolvieren soll. Diese Trainings bestreite ich grösstenteils alleine. Viele meiner Trainingskilometer lege ich in der Region meines Wohnorts Hägglingen zurück, wo ich längst jedes Schlagloch kenne, oder dann in Dänemark, wo mein Freund wohnt. Wenn Rennen auf der Bahn anstehen, trainiere ich in den Wochen vor dem Wettkampf mit dem Nationalteam auf der Bahn in Grenchen. Dort bestimmen dann auch die Nationaltrainer, woran wir arbeiten.
Wie viel Zeit nimmt dein Training in Anspruch?
Kommt drauf an, was man alles zum Training zählt.
Ok, dann frage ich anders: Wie viel Zeit investierst du in deine Profikarriere?
Ich sitze pro Woche zwischen 15 und 25 Stunden auf dem Fahrrad, je nach Zeitpunkt in der Saison und bevorstehenden Rennen. Zusätzlich absolviere ich ein bis zwei Krafttrainings pro Woche und alle zwei, drei Tage steht ein spezifisches Rumpftraining auf dem Programm. Hinzu kommen Mentaltraining, das Einhalten der korrekten Ernährung, die Regeneration und das Dehnen, das bei mir nie fehlen darf. Ohne am Abend zu dehnen, kann ich nicht schlafen.
«Meine Arbeit als Radprofi beginnt, wenn ich aufstehe, und ist erledigt, wenn ich um 22 Uhr ins Bett gehe.»
Das klingt extrem intensiv.
Ist es auch. Ich sage immer: Meine Arbeit als Radprofi beginnt, wenn ich aufstehe, und ist erledigt, wenn ich um 22 Uhr ins Bett gehe. Es ist wirklich extrem intensiv und man braucht eine sehr gute Selbstdisziplin, um dieses Programm konsequent durchzuziehen.
Und dann kommt ja auch noch das Reisen hinzu. Du verbringst in diesem Jahr beispielsweise weit mehr als 200 Tage im Ausland für Renneinsätze und Trainings.
Das stimmt. Ich habe aus Spass mal nachgezählt: In den ersten gut neun Monaten dieses Jahres habe ich in 29 verschiedenen Hotels in zwölf verschiedenen Ländern geschlafen.
Bist du auch #aargauersport?
Egal ob Sportlerin, Trainer, Schiedsrichterin, Funktionär, Vorstandsmitglied, Organisator oder leidenschaftlicher Fan – erzähl uns deine Geschichte!
Bist du für die Organisation der Unterkünfte und Transporte selbst zuständig?
Kommt drauf an. Wenn ich für Bahnrennen unterwegs bin, bin ich Teil der Nationalmannschaft von Swiss Cycling. Dann wird alles für uns organisiert und wir werden auch vor Ort betreut mit einem Trainer, einem Physiotherapeuten und einem Mechaniker. Das ist für uns Luxus, auch wenn es verglichen mit anderen Nationen noch immer ein sehr kleiner Betreuerstab ist, aber es reicht für unsere meist kleine Delegation. Eine sehr grosse Unterstützung ist auch, dass die Kosten für die Reisen und die Unterkunft vom Verband übernommen werden. Das ist grandios!
Ist das denn auf der Strasse nicht so? Dort fährst du ja für das luxemburgische Team des ehemaligen Tour de France Siegers Andy Schleck.
Schön wär’s, aber die Realität sieht leider anders aus. Das Team gehört zur UCI-Klasse, das ist die zweitoberste Kategorie der Profiradteams bei den Frauen. Das meiste Geld, das der Equipe zur Verfügung steht, geht drauf für die Lizenzkosten, damit wir überhaupt bei den Profirennen antreten dürfen. Darum bleibt kaum mehr was übrig für uns Fahrerinnen. Wir bekommen das Rennvelo und die Kleidung – alles andere müssen wir selbst organisieren und bezahlen.
Bild: Fellusch
Was heisst das für dich?
Das bedeutet, dass ich für einen Renneinsatz auf der Strasse die Reisen, die Hotelunterkünfte und die Verpflegung meistens selbst organisieren und bezahlen muss. Ein Rennen im Ausland kostet mich zwischen 300 und 800 Euro.
Was ist mit Lohn und Preisgeldern?
Für die Teams aus der UCI-Klasse gibt es keinen Mindestlohn, wie das bei allen Mannschaften in der höchsten Klasse der Fall ist. Ich bekomme keinen Lohn von meinem Team. Die Preisgelder im Frauenradsport werden auf jeden Fall immer grösser, doch trotzdem gibt es noch viel Luft nach oben. Und wenn ich auf der Strasse mal Preisgeld gewinnen sollte, wird der Betrag auf alle sechs Fahrerinnen des Teams aufgeteilt. Da bleibt nicht mehr so viel übrig.
Ist das nicht ein Hohn, wenn man das mit dem Aufwand vergleicht, den du betreibst, um auf diesem Niveau zu fahren?
Es ist auf jeden Fall frustrierend, wenn man es mit anderen Sportarten vergleicht. Man gewöhnt sich aber daran. Ein Beispiel: Ich habe in Barcelona ein Madison-Rennen auf der Bahn gewonnen in der Kategorie direkt unterhalb der Weltcuprennen. Für diesen Sieg gabs 400 Euro Preisgeld, das ich mir mit meiner Teamkollegin geteilt habe. Also blieben mir 200 Euro. Ich habe mich sehr gefreut über dieses Preisgeld. Als ich dann aber meinem Umfeld davon erzählt habe, schauten sie mich schräg an. Da wurde mir wieder einmal klar, wie wenig 200 Euro Preisgeld eigentlich sind und wie sehr ich mich schon daran gewöhnt habe. Das ist schon traurig.
Bild: Ulf Schiller
Ich verfolge den Frauenradsport nur am Rande. In diesem Sommer empfand ich jedoch die mediale Präsenz als sehr viel grösser als in der Vergangenheit. Habe ich mich da getäuscht oder hat die mediale Präsenz keinen Einfluss auf die finanzielle Situation der Fahrerinnen?
Nein, die mediale Präsenz war definitiv viel grösser und das ist auch sehr wichtig für unseren Sport. Bei den Spitzenteams ist es mittlerweile auch so, dass sie richtig gute Löhne bezahlen, und die Preisgelder bei den grossen Rennen sind auch deutlich gestiegen. In der Breite ist diese Entwicklung aber noch nicht so spürbar. Kommt hinzu, dass der Bahnradsport bei den Frauen noch einmal kleiner ist als der Strassenradsport. Verglichen mit vor fünf Jahren hat sich aber auch auf der Bahn schon sehr viel verändert, es braucht einfach noch etwas Zeit.
Wie schaffst du es denn unter diesen extrem schwierigen Bedingungen, deine Profikarriere zu finanzieren?
Einerseits arbeite ich in einem 40 Prozent Pensum in der Kommunikation von Swiss Cycling. Das ist super, da ich sehr flexibel von unterwegs arbeiten kann und trotzdem etwas Geld verdiene. Zudem bekomme ich Geld von der Sporthilfe und ich habe meine privaten Sponsoren. Ich bin ein mega Sparfuchs, aber ohne meine Familie würde es trotzdem eng.
Hinweis
In unserer neuen Serie «World Wide Aargau» stellen wir Athletinnen und Athleten aus dem Kanton Aargau vor, die ihre Sportart im Ausland ausüben oder im Ausland trainieren. Schick uns eine Mail an redaktion@aargauersport.ch wenn du jemanden kennst, den wir in dieser Rubrik vorstellen könnten.