Über den Tellerrand

Beim Sprung aus 1000 Metern Höhe entscheiden am Ende Zentimeter

von Fabio Baranzini – 18. Mai 2024

Lukas Zwicker springt aus dem Hellikopter für einen Fallschirmflug

Bild: zur Verfügung gestellt

In unserer Serie «Über den Tellerrand» stellen wir euch Sportarten vor, die im Kanton Aargau betrieben werden, aber in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Diesmal geht es um Fallschirmspringen, genauer das Zielspringen oder auf Englisch Accuracy Skydiving.

Fallschirmspringen als Leistungssport? Wenn ich ganz ehrlich bin: In meiner Wahrnehmung war Fallschirmspringen immer eine klassische Freizeitsportart. Bei der Recherche für einen Artikel zur Spitzensport-RS bin ich jedoch auf Lukas Zwicker (23) aus Oberrohrdorf gestossen. Er hat letzten Herbst die Spitzensport-RS absolviert – als Fallschirmspringer. Also gibt’s Fallschirmspringen doch als Leistungssport. Wie genau das funktioniert und was alles dazu gehört, erzählt uns Lukas. 

«Ich habe ein Schnuppertraining besucht und bin nicht mehr davon losgekommen.»

Lukas Zwicker, Fallschirmspringer

Bis zu 100 Tage pro Jahr auf dem Sprungplatz

2018 hat er seinen ersten Sprung absolviert und mit der Ausbildung zum militärischen Fallschirmaufklärer begonnen. Aufgenommen wurde er nicht in diese Spezialeinheit der Schweizer Armee, aber er ist durch die angefangene Ausbildung auf die Militärische Sportnationalmannschaft CISM SUISSE aufmerksam geworden, die auch ein Nationalteam im Fallschirmspringen stellt. «Ich fand das cool, habe ein Schnuppertraining besucht und bin nicht mehr davon losgekommen», erinnert sich Lukas Zwicker. 

Mittlerweile gehört er selbst zur Nationalmannschaft – noch im letzten Jahr bei den Junioren – und hat schon etliche Erfolge gefeiert. Unter anderem holte er sich den dritten Rang am Weltcupfinal in Dubai und wurde an der Junioren-EM Fünfter. Lukas arbeitet in einem 60 Prozent Pensum, den Rest seiner Zeit investiert er ins Fallschirmspringen. 80 bis 100 Tage pro Jahr verbringt er auf einem Sprungplatz und bestreitet etwa 12 Wettkämpfe, wobei ein Wettkampf sich immer über drei Tage erstreckt. EM und WM dauern gar bis zu zwei Wochen. Bis auf die Schweizer Meisterschaften und einen Weltcup finden die Wettkämpfe alle im Ausland statt – die meisten in Europa, da der Fallschirmsport in Europa am weitesten verbreitet ist.

Jeder Zentimeter zählt

Doch wie funktioniert denn jetzt Fallschirmspringen als Leistungssport? Muss man möglichst schnell sein? Möglichst weit fliegen? Möglichst spektakuläre Figuren zeigen? Ein Blick auf die Webseite des nationalen Verbandes «Swiss Skydive» zeigt, dass es ganz viele verschiedene Disziplinen gibt. Wir konzentrieren uns in diesem Artikel auf das Zielspringen, das in der Schweiz auch die Disziplin ist, die am weitesten verbreitet ist. Lukas Zwicker erklärt uns, wie diese Disziplin funktioniert: «Auf einer Höhe von rund 1000 Meter springen wir aus dem Flugzeug. Danach geht es darum, dass wir möglichst präzise ein Ziel anfliegen. Das Ziel ist eine Matte, die einen Durchmesser von fünf Metern hat. Auf dieser Matte wiederum liegt eine Sensorscheibe, deren Mittelpunkt zwei Zentimeter misst. Genau diesen Punkt müssen wir bei der Landung mit der Ferse treffen. Wichtig: Es zählt der erste Kontaktpunkt der Landung. Gelingt eine Punktlandung, gibt das null Punkte. Für jeden Zentimeter, den wir vom Ziel entfernt landen, gibt einen Zusatzpunkt.» Pro Wettkampf werden acht Sprünge absolviert und die Punktzahlen aller Sprünge werden addiert. Der Athlet oder die Athletin mit den wenigsten Punkten gewinnt den Wettkampf. Wer im Weltcup aufs Podest will, der darf nach den acht Sprüngen zumeist nicht mehr als drei Punkte auf dem Konto haben – ansonsten wird es nicht mehr reichen für einen Podestplatz. 

 

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Wind spielt eine entscheidende Rolle

Im Zielspringen gibt es nicht nur eine Einzelwertung, sondern auch eine Mannschaftswertung. Das ist auch der Grund, weshalb die Teammitglieder jeweils zu fünft auf einen Flug gehen und wenige Sekunden nacheinander aus dem Flugzeug springen. Anschliessend verteilen sie sich in der Luft, damit jeder der fünf Teammitglieder genügend Zeit hat für die Landung. Lukas Zwicker übernimmt aktuell in seinem Team jeweils die letzte Position. «Für mich ist das perfekt, denn so kann ich die anderen bei der Landung beobachten und bekomme dadurch wichtige Informationen über die Windverhältnisse», erklärt er. Der Wind spielt ohnehin eine entscheidende Rolle, denn je nach Wind muss die Zielscheibe anderes angeflogen werden. Und für den Fall, dass der Wind während der Landung zu stark ist – mehr als sieben Meter pro Sekunde –, wird der Sprung wiederholt. «Das kommt aber nur selten vor. Bei einem Weltcup, an dem rund 250 Athleten aus der ganzen Welt teilnehmen und jeweils acht Sprünge absolvieren, müssen vielleicht drei oder vier Sprünge wiederholt werden.» Bei starkem Regen oder Gewittern wird verständlicherweise nicht gesprungen. 

Die Landung ist beim Fallschirmspringen enorm wichtig

Bild: zur Verfügung gestellt

Der Kopf ist entscheidend

Doch was macht denn nun einen erfolgreichen Fallschirmspringer oder eine erfolgreiche Fallschirmspringerin aus? Die Antwort auf diese Frage ist für Lukas Zwicker einfach: «Die Erfahrung. Je mehr Sprünge du gemacht hast, umso besser hast du dein Material im Griff und umso besser kannst du den Wind lesen.» Lukas Zwicker hat bereits 1460 Sprünge hinter sich. Die besten Elite Athleten haben 16’000 Sprünge. Die körperliche Fitness spielt beim Fallschirmspringen nur eine untergeordnete Rolle. «Natürlich hilft es, wenn man fit ist. Die Trainingstage sind mit bis zu 15 Sprüngen ziemlich intensiv. Doch noch wichtiger ist die Konzentrationsfähigkeit. Ich bin überzeugt, dass der Kopf 80 Prozent des Erfolgs ausmacht. Das macht die Sportart aber auch so faszinierend und es ist genau deshalb möglich, auch im Alter von 50 Jahren noch Weltmeister zu werden», sagt Lukas Zwicker. 

Portrait von Fallschirmspringer Lukas Zwicker

Bild: zur Verfügung gestellt

Keine Vereine

In der Schweiz gibt es knapp 40 Personen, die Zielspringen ähnlich ambitioniert betreiben wie Lukas Zwicker. 30 davon gehören dem militärischen Nationalteam an, zusätzlich gibt es noch je ein Männer- und ein Frauenteam, das zivil trainiert. Wer wie Lukas zum militärischen Nationalteam gehört, der verbringt die meisten Trainingstage auf den Militärflughäfen in Alpnach, Emmen, Dübendorf und Locarno. Wenn man die Disziplin Zielspringen einmal ausprobieren will, muss man zuerst die Fallschirmausbildung absolvieren. «Dann kann man gerne mal in ein Schnuppertraining kommen», sagt Lukas Zwicker. Vereine, die Zielspringen anbieten, gibt es in der Schweiz keine.

Hinweis

Weitere spannende Beiträge aus unserer Rubrik «Über den Tellerrand», in der wir unbekannte Sportarten vorstellen, die im Kanton Aargau ausgeübt werden, findest du hier.