Im Fokus
Der verdiente Lohn nach einer langen Leidenszeit
Bild: Giulia Senn
In unserer Rubrik «Im Fokus» stellen wir Sportlerinnen und Sportler aus dem Kanton Aargau vor, die mit ihren Leistungen für Aufsehen gesorgt haben. Diesmal ist es 400m-Spezialistin Giulia Senn aus Bellikon, die an der U23 EM in Finnland Silber mit der Staffel gewann.
Seit Mai läuft Giulia Senn so schnell wie noch nie. Die 21-jährige 400m-Spezialistin aus Bellikon hat ihre persönliche Bestleistung auf der Bahnrunde um sage und schreibe zwei Sekunden verbessert (52,22). Und über 300m hat sie den U23 Schweizer Rekord von Lea Sprunger geknackt. Dank diesen Leistungen durfte sie sowohl an der Team EM der Elite teilnehmen als auch an der U23 EM in Finnland, die letzte Woche zu Ende gegangen ist.
«Im Ziel die Schweizer Fahne zugeworfen zu bekommen und gemeinsam mit den anderen zu feiern, war extrem schön.»
Und dort konnte Senn ihre tolle Form bestätigen. Im Einzelrennen der U23 EM lief sie mit einer guten Zeit auf Rang 5. In der 4x400m Staffel schrammte sie mit ihren Kolleginnen nur ganz knapp am EM-Titel vorbei und gewann Silber – ihre erste Medaille überhaupt bei einem internationalen Grossanlass. «Diese Medaille im Team zu gewinnen, war ein mega cooles Erlebnis. Im Ziel die Schweizer Fahne zugeworfen zu bekommen und gemeinsam mit den anderen zu feiern, war extrem schön», blickt Giulia Senn auf den Moment direkt nach dem Zieleinlauf zurück.
Bild: zur Verfügung gestellt
Platt nach einem 150m Lauf
Dass Giulia Senn in den letzten Wochen so viele Erfolgserlebnisse feiern durfte, bedeutet ihr sehr viel. Denn die junge Medizinstudentin hat schwierige Zeiten hinter sich. Rückblende: 2019 ist Giulia Senn U18 Schweizer Meisterin über 400m geworden, nahm an den U20 Europameisterschaften teil und wurde im Herbst überraschend als Ersatzläuferin der 4x400m Staffel für die Elite WM in Doha selektioniert – im Alter von 17 Jahren! «Das war crazy», blickt Giulia Senn zurück. «Es war krass, mit den Stars, die man sonst nur aus dem Fernseher kennt, im selben Frühstücksraum zu sitzen. Dennoch habe ich auch gesehen, dass es bei der Elite nicht grundlegend anders zu und her geht als bei internationalen Nachwuchsmeisterschaften. Das war eine sehr wichtige Erfahrung und eine grosse Motivation für mich.»
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Doch von dieser Motivation konnte Giulia Senn kaum profitieren. Denn nur wenige Wochen nach der Elite WM erkrankte sie am Pfeifferschen Drüsenfieber. «Ich war körperlich mega schwach. Schon nach einem kurzen Sprint über 100 oder 150m war ich platt und hatte extrem erhöhte Laktatwerte», erzählt sie. Rund ein halbes Jahr dauerte es, bis sie wieder bei Kräften war und auch intensivere Ausdauereinheiten absolvieren konnte. Doch statt wieder voll anzugreifen zu können, kam sogleich das nächste Problem: «Runners Knee» an beiden Knien. Dabei handelt es sich um ein Schmerzsymptom auf der Aussenseite des Knies, das bei jedem Schritt Schmerzen verursacht.
Drei Sekunden langsamer
«Ich habe einen Laufstil mit etwas zu viel Innenrotation in den Knien und zudem leichte O-Beine – beides ist nicht hilfreich bei einem ‘Runners Knee’», erklärt Giulia Senn. Entsprechend hartnäckig hielt sich die Verletzung bei ihr. «Während fast zwei Jahren kamen und gingen die Beschwerden immer wieder.» Über einen längeren Zeitraum schmerzfrei zu trainieren, war für Giulia Senn daher nicht möglich. Entsprechend war auch nicht an schnelle Zeiten zu denken. 2022 lief sie über 400m eine 57er-Zeit. Zum Vergleich: Drei Jahre zuvor absolvierte sie die Bahnrunde mehr als drei Sekunden schneller. «In diesen Momenten dachte ich ernsthaft darüber nach, mit der Leichtathletik aufzuhören. Es kann ja nicht sein, dass ich mit 17 drei Sekunden schneller bin als mit 20, obwohl ich so viel in den Sport investiere. Das hat extrem auf die Motivation geschlagen», sagt Senn.
Bild: Lucca Blum
Doch dann – Ende 2022 – machten sich die Bemühungen von Giulia Senn endlich bezahlt. Durch den Aufbau von mehr Muskelmasse und eine damit verbundene Verbesserung der Laufposition konnte Giulia Senn die Innenrotation in ihren Knien stabilisieren. Und seither kann sie endlich wieder schmerzfrei trainieren. Sofort kamen auch die Resultate zurück. Schon beim ersten Renneinsatz lief Giulia Senn eine neue persönliche Bestzeit über 400m. «Das tat unglaublich gut. Es hat mit gezeigt, dass es sich lohnt, immer weiterzumachen und an den Erfolg zu glauben», sagt Senn.
Unter 52 Sekunden laufen
Die beiden Teilnahmen an der Team EM und an der U23 EM waren entsprechend auch die verdiente Belohnung für den Durchhaltewillen von Giulia Senn, der in der vergangenen drei Jahren auf eine harte Probe gestellt wurde. Jetzt aber ist die 21-Jährige bereit, richtig durchzustarten. Sie liebäugelt mit einer weiteren WM-Teilnahme bei der Elite im August in Budapest und nimmt dann die World Relays auf den Bahamas ins Visier. Bei diesem Staffel-Wettkampf Anfang 2024 könnte sich das Schweizer Team mit dem Erreichen des Finals für die Olympischen Spiele qualifizieren. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Zuerst will Giulia Senn weitere Wettkämpfe absolvieren und noch in diesem Jahr erstmals eine Zeit unter 52 Sekunden laufen.
Hinweis
In unserer Rubrik «Im Fokus» stellen wir einmal im Monat einen Sportler oder eine Sportlerin aus dem Kanton Aargau vor, die mit ihren Leistungen für Aufsehen gesorgt hat. Alle bisherigen Portraits findest du hier.