«Meine Gefühlswelt war ein ziemliches Chaos»

«Der Tag des Finals über 400m Freistil war der Tag, auf den ich seit den Paralympics in Tokio drei Jahre davor hingearbeitet hatte. Das Rennen fand um 17 Uhr statt. Ich hatte also viel Zeit vor meinem Hauptrennen. Das Rennen war immer im Hinterkopf, schliesslich habe ich alles auf diesen Wettkampf ausgerichtet. Trotzdem blendete ich das Rennen an diesem Tag bewusst ab und zu aus, um präsent zu sein und mich auf das zu fokussieren, was ich gerade machte.

Die Nacht vor dem Rennen haben wir nicht im Olympischen Dorf verbracht, sondern in einem Hotel direkt neben der Schwimmhalle. Dies weil wir wussten, dass der Verkehr in Paris unberechenbar ist und die Anreise bis zu 90 Minuten dauern kann. Diesen nicht planbaren Faktor wollten wir umgehen. Nach dem Frühstück bin ich bereits ein erstes Mal ins Wasser gegangen. Das gehört für mich zur Vorbereitung, denn das Schwimmen beruhigt mich. Ich bin zur Auflockerung zwei Kilometer geschwommen. Danach gings zurück ins Hotel, wo ich etwas gegessen und anschliessend ein kurzes Nickerchen gemacht habe.

Meistens gehe ich rund zwei Stunden vor dem Wettkampf in die Schwimmhalle. Diesmal war ich etwas früher, damit ich bei allfälligen Verzögerungen genügend Zeit gehabt hätte. Ich absolvierte ein Aufwärmprogramm an Land, danach gings zum Einschwimmen ins Wasser. Im Anschluss daran zog ich meinen Wettkampfanzug an. Die letzten 30 Minuten vor dem Rennen verbrachte ich im sogenannten Callroom. Auch da war ich absichtlich zu früh, denn wenn man zu spät kommt, wird man disqualifiziert. Da sind die Regeln sehr streng.

Mein Trainer Amin Jaza war für die Vorbereitungen in der Schwimmhalle immer bei mir und hat sich um alles gekümmert, damit ich mich nur auf mein Rennen konzentrieren konnte. Vor dem Einschwimmen gingen wir die geplante Strategie nochmals durch. Auch im Callroom war er dabei, da er mich nachher auf den Startblock heben würde – wir durften aber nicht miteinander reden. Warum es diese Regel gibt, weiss ich ehrlich gesagt nicht (lacht).

So kurz vor dem Rennen war meine Gefühlswelt ein ziemliches Chaos. Einerseits war ich ziemlich nervös, andererseits war die Vorfreude riesig. Der 100m Freistil Wettkampf lag zwei Tage zurück und in diesen zwei Tagen war es wichtig, die Balance zwischen An- und Entspannung zu finden. Das fühlte sich für mich wie Warten an. Wer mich kennt, weiss, dass ich nicht besonders gerne warte. Jedoch hatte ich mich darauf eingestellt und die Erfahrung von den Spielen in Tokio half mir.

Als es dann endlich losging, lag der Fokus auf mir und meiner Strategie. Aus den Augenwinkeln sieht man schon ab und zu, was die Konkurrenz macht. Erst 100 Meter vor Schluss habe ich aber bewusst wahrgenommen, wo die Chinesin lag. Ich war überrascht, dass ich noch so nahe an ihr dran war und ich versuchte mit allem, was ich noch hatte, den Abstand zu verringern. Welchen Platz ich effektiv geholt hatte, sah ich erst nach dem Anschlag auf der Anzeigetafel. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als ich dort die zwei vor meinem Namen sah. Es war der Moment, in dem ich realisierte, dass all die unzähligen Trainingsstunden, Zeit und Energie sich gelohnt hatten. Es war auch ein völlig anderes Gefühl als in Tokio. Dieses Mal waren die Tribünen voll mit Zuschauerinnen und Zuschauern und ich verstand, was mit der paralympischen Atmosphäre gemeint ist. Es war laut in der Halle und Familie und Freunde waren mit dabei, was diesen Moment noch schöner machte. Das war ein unvergessliches Erlebnis.»