«Was mich bei Chiara beeindruckt, ist ihr Wille»

«Vor sechs Jahren habe ich das Amt als Nationaltrainer beim Schweizer Schiesssportverband übernommen. Zuerst war ich im Nachwuchs tätig und habe dort auch Chiara kennengelernt. Aufgrund ihrer Resultate bei den Juniorinnen hätte ich ihr damals – so ehrlich muss ich sein – nicht unbedingt zugetraut, dass sie den Sprung an die Weltspitze schaffen wird. Aber was mich damals schon sehr beeindruckt hat, war ihr Wille. Sie hat schon als Juniorin sehr, sehr viel für ihren Sport investiert. Sie wohnte damals noch in Frick und ging zur Schule. Dennoch pendelte sie jede Woche zwei bis drei Mal mit dem Zug nach Biel, um im nationalen Leistungszentrum zu trainieren. Das war ein immenser Aufwand, den sie betrieben hat, um ihrer Leidenschaft nachzugehen.

Dieser Wille ist nach wie vor ungebrochen. Das beweist Chiara jeden Tag im Training. Manchmal ist sie etwas ungeduldig und erzielt nicht so schnell Fortschritte, wie sie sich das vorstellt und wünscht. In diesen Momenten bricht jeweils ihr italienisches Temperament kurz durch und die Emotionen kommen hoch. Aber das zeigt mir, dass sie es wirklich unbedingt will. Chiara zeichnet aber viel mehr als aus ‘nur’ ihr Wille. Sie ist sehr zielstrebig und weiss, was sie will. Sie hat das nötige Durchsetzungsvermögen und steht für ihre Meinung ein. Das ist gerade für unsere tägliche Zusammenarbeit enorm wichtig. Zudem war es für ihre Karriere sehr wichtig, dass sie nach Biel gezogen ist und mittlerweile als Vollprofi täglich im nationalen Leistungszentrum trainieren kann. Der Schiesssport hat eine enorme Entwicklung durchlaufen in den letzten Jahren. Wer international erfolgreich sein will, muss zwingend alles dem Sport unterordnen und neben dem Techniktraining auch im mentalen und athletischen Bereich arbeiten. Und genau das macht Chiara.

So hat sie sich in den letzten Jahren sukzessive steigern können und ist in diesem Jahr an der Weltspitze angekommen. Das beweisen nicht nur ihre Medaillen, sondern auch die Tatsache, dass sie am Weltcupfinale der besten 15 Frauen dabei war. Chiara ist beständig geworden in ihren Leistungen und was mich vor allem freut: Sie ist mental sehr stark. Wenn sie ins Finale kommt, dann kann sie um die Medaillen mitkämpfen. Eine Anekdote bezüglich ihrer mentalen Stärke ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Es war ein Wettkampf, bei dem es um den letzten von drei EM-Startplätzen ging. Chiara duellierte sich dabei mit einer Teamkollegin. Diese hatte den Wettkampf vor ihr beendet. Normalerweise achten wir darauf, dass unsere Athletinnen vor ihren Einsätzen so wenig Informationen über die Resultate der Gegnerinnen haben wie möglich, damit sie sich davon nicht ablenken lassen. Chiara wollte aber unbedingt wissen, wie gut ihre Teamkollegin war. Sie liess sich davon auch nicht ablenken. Im Gegenteil: Sie erzielte im Wissen um das Resultat eine persönliche Bestleistung. Ich bin überzeugt, dass 80 Prozent der Schützinnen und Schützen an dieser Ausgangslage zerbrochen wären. Chiara nicht. Sie kann sich unter Druck zu Höchstleistungen pushen, was im Schiesssport eine sehr seltene Gabe ist. Und genau deshalb glaube ich, dass sie ihr Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft hat.